Symphonische Werte in einer globalisierten
Welt
Um es gleich vorwegzunehmen, der Planet Erde ist noch nicht globalisiert.
Jedoch befinden wir uns unwiderruflich in einem Globalisierungsprozess.
Ob es jemals zu einer umfassenden Globalisierung kommen wird, soll nicht
weiter hinterfragt werden.
Somit versuche ich vor allem auszuloten, wie das Symphoniekonzert in
einer Gesellschaft, die mit unzähligen, vom Globalisierungsprozess
hervorgerufenen neuen Einflüssen konfrontiert wird, weiterhin Gegenstand
von Nachfrage bleiben kann. Die Grundlage einer Nachfrage bildet sicher
einmal die entsprechende Wertschätzung. Und Wertschätzung
resultiert aus dem Bewusstsein über Werte.
Die heutigen Möglichkeiten der Telekommunikation lassen die Distanzen
schwinden, was uns Gelegenheit gibt, ohne grösseren Aufwand die
Musik anderer bislang unbekannter Kulturen kennen lernen und bewundern
zu können. Womöglich ist man rasch einmal geneigt, bisherige
Wertmassstäbe zu relativieren. Unter anderem wird man sich die
Frage stellen, inwiefern Symphonik ihre Berechtigung behält, wo
die doch so kostenaufwändig ist und rasch einmal mit Langeweile
in Verbindung gebracht wird.
Symphonik ist ureuopäisch und wurde nicht zuletzt auch durch die
hiesigen klimatischen Verhältnisse geprägt, die aus vier Jahreszeiten
bestehen. Wir haben immer mit den Jahreszyklen von Werden, Sein und
Vergehen gelebt. Klang verhält sich ebenso. Etwas, das zum Erklingen
gebracht wird, entspricht dem Werden. Klingt es, so entspricht es dem
Sein. Jedoch ist dabei das Verklingen schon am Tun, was sein Adäquat
im Vergehen hat. Symphonik lebt im Kleinen wie im Grossen von dieser
zyklischen Abfolge und ermöglicht damit unserer Wahrnehmung die
entsprechenden individuellen Klangerlebnisse. Die Symphonie ist das
Gebäude, das sich aus dem Gefüge vieler kleiner Klang-Zyklen
zusammensetzt. Und aus dem Geschehen des Zusammenfügens kann eine
Richtschnur von konstruktivem Charakter entstehen. Der optimalste Moment
dafür bietet die Interaktion zwischen Klangquelle (= Orchester)
und eigener Wahrnehmung (=Zuhörer), was eben nichts anderes als
ein Konzert ist. Dieses elementare Geschehen von konstruktivem Charakter
gibt unserem Leben die entsprechenden konstruktiven Impulse.
Klang im Kleinen und Symphonik im Grossen sind dann konstruktiv, wenn
die innewohnenden Zyklen von Werden, Sein und Vergehen verhältnismässig
sind. Das kann vieles bedeuten; hingegen entscheidet letztlich die eigene
individuelle Wahrnehmung über die Akzeptanz eines bestimmten Klang-Geschehens.
Vorrangige Wertschätzung in unserer heutigen „Event-Gesellschaft“
gilt mehrheitlich expansiven Aktionen, der Divergenz. Ein Zyklus
würde dann vollständig und somit auch konstruktiv sein, wenn
die entsprechenden Anteile an Konvergenz ebenfalls vorhanden sind. Konvergenz,
die Phase des Vergehens bis hin zum Sterben, was Ruhe und speziell in
der Musik auch das Ende eines Stückes bedeutet, bleibt heutzutage
eher wenig beachtet. Der Tod, das Sterben sind vielerorts verdrängte
Angelegenheiten. Kann das Vergehen gemäss seinem Lauf geschehen,
wird es von selbst harmonisch in die Gesamtheit integriert. Hingegen
werden Klänge, die nie vergehen zur Tortur. Um konstruktiven Charakter
als Lebensimpuls erfahren zu können, muss das Vergehen Bestandteil
sein. Symphonik lehrt uns in elementarer Weise, wie sich Vergehen ins
Konstruktive integriert und gelangt damit in die Kategorie von geistigem
Rohstoff.
Das Rückbesinnen auf die Rohstoffe jeglicher Art wird bei den Überlebens-Strategien
im Globalisierungsprozess von zentraler Wichtigkeit sein. Symphonik
als Rohstoff, entrümpelt von überkommenen Erwartungshaltungen,
kann durchaus in allen möglichen Konstellationen Bestand haben.
Egal, welche Kräfte im Globalisierungsprozess überhand nehmen
werden, die symphonischen Substanzen sind wie Edelmetalle und bleiben
bestehen. Welche Gestalt das heutige Symphoniekonzert und somit auch
der Anbieter, das Symphonieorchester, dereinst haben werden, kann man
heute im Detail noch nicht sagen. Man wird um einen Anpassungsprozess
an eine sich verändernde Umwelt nicht herum kommen. Gelingt als
erster Schritt die Reduktion auf das Substanzielle, nämlich die
Bewusstwerdung der symphonischen Werte, so darf man sich guten Mutes
auf den Weg in Zukunft machen.
© Daniel Schweizer, Juni 2006