Musikalische
Analogien
Niemand kann abschliessend definieren, was Musik ist. Letztlich sind
alle recht grosszügig und verleihen rasch einmal das Etikett Musik,
sobald etwas vermeintlich klingt oder Geräusche erzeugt. Sind aber
Klänge an sich und selbst in einer angeordneten Abfolge bereits
Musik ? Demnach müsste man Erzeugern von Umweltklängen, vorab
den Herstellerfirmen von Autos (denn jeder Motor hat seinen eigenen,
charakteristischen Klang) sowie den Eisenbahn- und Fluggesellschaften
zugestehen, Musik zu kreieren. Musik kann also bestenfalls aus Klängen
entstehen. Hingegen ist es sicher ein natürliches Verlangen, Musik
verstehen zu wollen.
Günstige Voraussetzung, etwas verstehen zu können, ist, es
zu erleben. Erleben geschieht ganzheitlich. Beschreibe ich die Wirkung
von Funktionsmöglichkeiten der Teile einer Ganzheit, erschliesse
ich meinem Vorstellungsvermögen einen Raum für Erlebnisse,
die auch im Bereich der Musik Entsprechung finden können.
Die besten Bedingungen, Musik erleben zu können, gewähren
eigenes Musizieren, selber komponieren oder Musizierenden zuzuhören.
Eine dieser Tätigkeiten ist unerlässlich. Ergänzend dazu
kann aber auch Offenheit gegenüber Vorgängen, die Analogien
zu musikalischen Funktionen aufweisen, dem Verlangen, Musik zu verstehen,
entgegenkommen. Solche Analogien möchte ich im folgenden vorstellen.
Kaum jemand wird daran denken, dass man sich als Lenker eines Fahrzeuges
in einem gewissen Sinn auch musikalisch verhält. Angesichts der
Aussage, musikalisches Verhalten sei spontanes Reagieren auf Verhältnismässigkeiten
innerhalb einer Struktur, wird die Analogie zum Strassenverkehr jedoch
anschaulicher.
Die Strasse, auf der ich mich vom Ausgangsort A zum Ziel Z begebe, bestimmt
eindeutig die Richtung, die ich einzuschlagen habe. Andere Richtungen
werden ausgeschlossen. Geht man davon aus, dass sich auf dieser Strasse
keine weiteren Verkehrsteilnehmer befinden, so halten sich auch die
Reaktionsanforderungen an mich in Grenzen. Und trotzdem verbleiben mir
immer noch unzählige Möglichkeiten, mich auf der gegebenen
Strasse von A nach Z zu bewegen.
Beschränkt man sich zudem bei der Wahl des Verkehrsmittels auf
ein Fahrrad und daselbst auf eine einzuhaltende Geschwindigkeitsspanne,
so wird schon bei der ersten Kurve die Vielzahl an Möglichkeiten
manifest, aus der ich eine bestimmte wähle und die dadurch sogar
einmalig wird: die bestimmte Geschwindigkeit in der bestimmten Kurve
verlangt von mir die entsprechende Gewichtsverlagerung.
Der Entscheid für die entsprechende Gewichtsverlagerung ist eine
spontane Reaktion auf die Verhältnismässigkeiten innerhalb
der Struktur der Strasse. Aus der Tatsache, dass dieser Vorgang nicht
identisch wiederholbar ist, denn immer werden nur schon wegen unterschiedlicher
Disposition des Fahrers oder wegen veränderter klimatischer Bedingungen
die physikalischen Messresultate ungleich ausfallen, lässt sich
der Begriff der Einmaligkeit ableiten und verstehen.
Wesentlich mehr an Reaktionsfähigkeit wird von mir verlangt, wenn
sich auf der besagten Strasse zusätzliche Verkehrsteilnehmer befinden
und ich meine Fahrweise den verschiedenen im Moment auftretenden Situationen
anpassen muss. Bereits der Fall, bei dem in einiger Entfernung ein Fussgänger
die Strasse überquert, lässt in mir neue Reaktionsabläufe
geschehen. Ich erwäge zwischen Tempo verlangsamen oder beschleunigen
sowie Kursänderung mittels ausholendem Bogen. Gleichzeitig messe
ich die Distanz ab, die der Fussgänger bei unserem voraussichtlichem
Kreuzungspunkt zurückgelegt haben wird.
Indem ich aufgrund meines Entscheides den vorhandenen Spielraum innerhalb
der Gegebenheiten der Strasse allenfalls mit einem ausholenden Bogen
nutze, befolge ich einen Reaktionsablauf, wie er sich auch im Bereich
der Musik abspielen könnte: Ohne, dass die strukturellen Gegebenheiten
verändert worden wären, findet mein Bewegungsverhalten in
Funktion einer nicht vorhersehbaren, neu aufgetretenen Bewegung statt.
Die Beschaffenheit der Struktur gewährt dem Bewegungsverhalten
einen Spielraum. Eine Wechselwirkung wird erkennbar. Dem beweglichen
Teil sind dahingehend Grenzen gesetzt, als falsche Gewichtsverlagerung
einen Sturz, falsche Bemessung der Geschwindigkeit sowie falscher Kursverlauf
eine Kollision mit Objekten am Strassenrand oder mit dem Fussgänger
zur Folge hätte. Der aus der Wechselwirkung resultierende Bewegungsverlauf
wird schliesslich selbst Struktur, und zwar in Gestalt eines einmaligen,
nicht wiederholbaren Geschehens. Übertragen auf Musik, ist diesem
Beispiel zu entnehmen, dass feste Gegebenheiten, wie sie bei sämtlichen
musikalischen Positionen existent sind, das entsprechende Verhalten
zeitigen.
Feste strukturelle Gegebenheiten in der Musik machen schon die Gesetze
der Akustik aus, wie etwa das Obertonspektrum, die Beschaffenheit der
menschlichen Stimme, als auch die Möglichkeiten der diversen Instrumente.
Auf einer weiteren Ebene schaffen die in Form einer Partitur vom Komponisten
disponierten Klänge zusätzliche strukturelle Bedingungen.
Zum festgelegten Teil steht reagierend die eigene Position, sei es als
Zuhörer, als Musizierender oder als Komponist. Egal, welche Position
man im Moment einnimmt, von Bedeutung ist, dass man sich der Ereignisse
in bezug auf strukturelle Gegebenheiten gewahr wird und das daraus hervorgehende
Geschehen als Absolutum erkennt.
Aus jedem Geschehen resultiert die entsprechende Wirkung. Und eine solche
Wirkung muss vorerst einmal wahrgenommen werden. Demnach ist die eigene
Wahrnehmung jedem Geschehen innewohnend und so Drehpunkt von Ursache
und Wirkung wie auch von Aktion und Reaktion.
Kardinaler Teil eines Geschehens ist die eigene Position und die sich
daraus ergebende Perspektive. Die zu Beginn erwähnten drei Bedingungen,
Musik erleben zu können (musizieren, komponieren, oder zuhören)
sind, zu den möglichen Positionen innerhalb eines allgemeinen Geschehens
deckungsgleich. Musizieren bedeutet, im Rahmen gegebener Strukturen
an einem Geschehen teilzunehmen und zwar mittels entsprechender Aktionen
und Reaktionen. Komponieren ist dem Festlegen von Strukturen und zuhören
dem Betrachter gleichzusetzen.
Die Positionen durchdringen sich. Der Komponist legt Strukturen fest,
die er gehört hat. Die Position des Hörens ist somit Teil
des Festlegens von Strukturen. Oder, hören lässt Strukturen
entstehen.
Hören ist wiederum Voraussetzung für das Musizieren, der Analogie
von Aktion und Reaktion, dem Teilnehmen innerhalb gegebener Strukturen.
Anderseits ist die Position des Musizierens auch in der Position des
quasi „passiven Zuhörens“ präsent, denn aufgrund
des Gehörten laufen im Innenleben die entsprechenden Aktionen und
Reaktionen ab.
Das Festlegen von Strukturen, komponieren also, ist von der Fähigkeit
abhängig, physikalische Gegebenheiten in ihrer Wirkung einschätzen
zu können. Gehörtes in Strukturen festzulegen, verlangt gleiche
bewusstseinsmässige Abläufe wie das Musizieren. Und je nachdem
wie die gegebenen Strukturen vorliegen, verhält sich der Musizierende
strukturierend.
Ein weiteres Bild soll hierzu die Türe zum entsprechenden Erlebnisraum
öffnen, denn Analogien zur Musik sind nicht zuletzt auch in einem
Fussballspiel auszumachen. Vorab sollen aber dessen feste strukturellen
Gegebenheiten aufgelistet werden.
Da ist einmal die Begrenzung des Feldes, das den zur Verfügung
stehenden in der Fläche bestimmt. Zwei Tore polarisieren das Feld.
Zusätzliche Gegebenheiten bedeuten die zeitliche Begrenzung des
Spieles sowie die Spielregeln, die bei Missachtung vom Schiedsrichter
dank seiner Kompetenzen durchgesetzt werden können.
Zu diesen festen Strukturen stehen als bewegliche Teile die Spieler
und der Ball, der zugleich Brennpunkt des gesamten Spielgeschehens ist.
Die Spieler bestimmen von wechselnden Standorten aus mit ihren Impulsen
den Richtungsverlauf des Balles. Bemerkenswert und für spätere
hiesige Erkenntnisse von Bedeutung ist der Seitenblick auf die Tatsache,
dass bis anhin noch nicht versucht worden ist, offizielle Fussballspiele
mit zwei oder mehr Bällen durchzuführen. Mehr Quantität
an Bällen verspricht offenbar nicht eine Spannungssteigerung.
Das jeweilige Erscheinungsbild des Geschehens während eines Spieles
entsteht aus den Intentionen der beteiligten Spieler, die in zwei numerisch
gleich besetzte Parteien aufgeteilt sind. Jede Partei ist einem der
beiden Pole zugeteilt. Es ist naheliegend, dass polarisierte Gruppen
Bewegung erzeugen. Dies, weil jede Partei versucht, den Brennpunkt des
Geschehens mit dem gegenüberliegenden Pol zusammenzubringen.
Die Aktion eines Spielers hat Reaktionen und neue Aktionen der übrigen
Spieler zur Folge. Jedem Impuls auf den Ball folgt ein Vektor. Der Vektor
ist mit der Richtung und Länge des entsprechenden Ballverlaufs
identisch. Die zahllosen Vektoren definieren den Raum des Spieles. Aus
der jeweiligen Stellung und dem Zusammenwirken der Spieler, seien sie
impulsgebend oder -beinflussend, -verhindernd oder -fördernd, resultiert
eine Summe von Vektoren als Erscheinungsbild.
Einerseits bietet sich eine unendliche Zahl von möglichen Geschehen
an, anderseits lassen diese alleinig den Rückschluss auf eine bestimmte
strukturelle Gegebenheit zu. Aus der an unendlich viele Möglichkeiten
gebundenen Einmaligkeit ergeben sich ständig neue Situationen.
Angesichts der fortwährenden Fluktuation der Erscheinungsbilder
lässt sich zur Identifizierung eines bestimmten Spieles kaum ein
auf dessen gesamte Dauer zutreffendes Erscheinungsbild festlegen. Anderseits
genügen zur minimalen Identifikation einer Begegnung bereits die
Namen der beiden beteiligten Parteien, Datum und Endergebnis. Dies ist
aber für das Fortbestehen der Fussballwelt eher von geringer Bedeutung,
selbst wenn sämtliche Intentionen ein eindeutiges Endergebnis zum
Ziel haben. Die Ereignisse als solche und das daraus entstehende spezifische
Erscheinungsbild müssen demnach wesentlicher sein. Und diesen Ereignissen
ist Einmaligkeit eigen. So gesehen sind die Ereignisse eines bestimmten
Fussballspieles vom 8.8.88 nicht wiederholbar; die Begegnung kann nur
im Hinblick auf ein eindeutiges Resultat wiederholt werden.
Wenn vorgängig lediglich das Geschehen während eines Fussballspiels
Gegenstand der Betrachtung war, so soll nun auch die Optik der daran
beteiligten Positionen mit einbezogen werden, nämlich sowohl die
der Spieler, als auch die der Zuschauer.
Es ist anzunehmen, dass in Anbetracht der ständig wechselnden Situationen
die Wahrnehmung aller Beteiligten beträchtlich beansprucht wird.
Ein Denken im linear kausalen Sinn wird für die Betroffenen kaum
taugen. Es bleibt nichts anderes übrig, als auf das Geschehen spontan
zu reagieren. Das Geschehen wird erlebt.
Über die Wahrnehmung wird das Innenleben bewegt. Dort läuft
zunächst bei allen reaktionsmässig das Gleiche ab. Die aufgrund
der inneren Reaktionsabläufe folgenden Tätigkeiten, sind bei
den Spielern angesichts der diversen athletischen Leistungen augenfällig.
Beim Publikum, das in der Fussballwelt einen nicht unwesentlichen Teil
ausmacht, sollte man den Unterschied zwischen parteinehmenden und parteilosen
Zuschauern nicht ausser Acht lassen. Wir wissen, solange zugeschaut
wird, bewegt sich im Innenleben etwas, das sich auf das Geschehen bezieht.
Bisweilen sind da auch mit Nachdruck geäusserte akustische Komponenten
zu vernehmen, deren Ursache vermutlich grössenteils entweder überschäumender
Faszination, hochgradiger Fachkenntnis oder einem ausgeprägten
Gerechtigkeitssinn zuzuschreiben ist.
Im soeben durchstreiften Erlebnisraum befassten wir uns mit zwei verschiedenen
Positionen, die gleichzeitig an ein und demselben Geschehen teilnehmen:
Spieler und Zuschauer. Es wurde bereits erwähnt, wie sich verschiedene
Positionen durchdringen. Ebenfalls wurde festgehalten, dass ein bestimmtes
Erscheinungsbild zugleich auf seine ihm zugehörenden strukturellen
Gegebenheiten schliessen lässt. Die Möglichkeit zum Rückschluss
setzt wiederum Vertrautheit nit eben diesen strukturellen Gegebeneheiten
voraus. Oder direkt formuliert, strukturelle Gegebenheiten bilden die
Basis von Vertrautheit.
Aus der Wechselwirkung von vielen sich anbietenden Möglichkeiten
in bezug auf feste Gegebenheiten erwächst der Wahrnehmung ein Raum.
In den darin stattfindenden Geschehen kann ein Sinn erkannt werden.
Das Ausmass dieses Sinn-Raumes wird durch die Wahrnehmungsfähigkeit
eines jeden Individuums begrenzt. Sich an einem Geschehen beteiligen,
heisst, „in etwas einen Sinn erkennen.“ Einem Geschehen
Aufmerksamkeit verleihen, beinhaltet „Sinn erkennen“.
Das Ausmass individueller Wahrnemungsfähigkeit ist nicht messbar.
Wie etwas wahrgenommen wird, zählt so viele Versionen wie es Menschen
gibt, denn die Wahrnehmung anderer lässt sich nur vage abschätzen.
Trotzdem lassen sich frei von Masseinheiten Grenzbereiche ausmachen.
Sinn-Raum grenzt sich von Raum ohne Sinn ab. Im „sinnlosen Raum“
spielen sich Ergebnisse ab, in denen kein Sinn erkannt werden kann.
Folglich werden diesen „sinnlosen Ereignissen“ keine Beachtung
geschenkt oder sie werden sogar verworfen.
Aufgrund gemeinsamer Interessen gruppieren sich Menschen. Jede einzelne
dieser Gruppierungen - vergleichbar mit dem aus der Wirtschaft stammenden
Ausdruck Markt - stellt eine „Welt“ dar; in unserem letzten
Beispiel die Fussballwelt. Diese Fussballwelt ist dem beschriebenen
Sinn-Raum gleichbedeutend.
Es stellt sich die Frage, warum die Fussballwelt überhaupt existieren
kann. Sicher gewähren die Regeln (und dies gilt wahrscheinlich
bei allen Sportarten) optimale Bedingungen, womit das Verhältnis
zwischen vielen sich anbietenden möglichen Geschehen in bezug auf
feste Gegebenheiten spontan nachvollzogen werden kann. Viel und doch
nicht zuviel.
Die Vielzahl an Möglichkeiten ist verarbeitbar. Demgegenüber
mangelt es nie an verschiedenen Möglichkeiten, ansonsten es sofort
langweilig würde. Daraus lassen sich Verhältnismässigkeiten
ableiten, die Raum bieten. Raum, in dem Sinn erkannt wird. Vom im Raum
stattfindenden Geschehen geht eines Faszination aus. Wer fasziniert
ist, ist motiviert und scheut keine Mühe. Die Faszination wirkt
auf alle Positionen, Spieler wie Zuschauer.
Da uns zur Bemessung der Grenzbereiche individueller Wahrnehmungsfähigkeit
keine allgemeinen Masseinheiten zur Verfügung stehen, bleibt nichts
anderes übrig, als für ein gewisses Mass das entsprechende
Gefühl zu entwickeln. Die folgende Spekulation möge nunmehr
den Grenzbereich des Ausmasses individueller Wahrnehmungsfähigkeit
bezüglich einer „Welt“, sprich Markt, spürbar
machen. Zunächst wollen wir auf den Seitenblick zurückkommen,
der die Frage aufwarf, warum sich in der Fussballwelt nie Spiele mit
gleichzeitig zwei Bällen etabliert haben. Man kann die Frage dahingehend
erweitern und sich Gedanken machen, wie es wäre, wenn auf einem
einzigen Fussballfeld sogar gleichzeitig vier Mannschaften spielten:
also mit zwei Bällen, vier Polen und übers Kreuz. Ich sehe
den Grund, warum sich das nie durchgesetzt hat, ausschliesslich im Zuviel.
Hingegen gelingt es mir nicht, im Fussball ein analoges Extrembeispiel
im Bereich des Zuwenig anzuführen. Alles was vermindernd wirkt,
wie Spieler auf der Strafbank, konnte die Entwicklung der Fussballwelt
nie nachhaltig beeinträchtigen. Es scheint, als könnte das
aus der Summe der Geschehen hervorgehende Erscheinungsbild dann Grundlage
für die Entstehung einer „Welt“ oder eines Marktes
sein, wenn das Wieviel für die wahrnehmungsmässige Verarbeitung
einem gewissen Mass entspricht.
Mit den angeführten Beispielen konnten ebenfalls Fakten für
die Einmaligkeit aufgezeigt werden, die entsprechenden Geschehen eigen
ist. Durch die Einmaligkeit kommt solchen Geschehen Absolutheit zu.
So wunderbar Absolutheit anmuten mag, sie genügt jedoch als solche
nicht. Es bietet sich der Quervergleich zur Musikwelt an. Denn Konstellationen
wie sie im Fussball entstehen, sind durchaus auch einer Abfolge von
Tönen vergleichbar.
Die beiden am Fussball beteiligten Positionen haben ihr Analog in der
Musikwelt: Spieler und Zuschauer entsprechen Musizierenden und Zuhörern.
Fussball spielen kann man ohne Zuschauer und ebenso kann man ohne Zuhörer
musizieren. Indes kann man nicht Fussball spielen ohne zu sehen und
genauso wenig kann man musizieren, ohne zu hören. Mit den zwei
Positionen Spieler und Zuschauer ist die Fussballwelt komplett; die
Musikwelt nur teilweise.
Was ein Fussballspiel ausmacht, wurde erwähnt. Beschränken
wir uns zunächst in der Musikwelt auf die eine, für sich existenzfähige
Position, der des Musizierens, so helfen uns die gemachten Überlegungen
bei der Beschreibung des Geschehens. Dem Erscheinungsbild im visuellen
Bereich entspricht im auditiven das Klangbild. Aus der Abfolge von Tönen
wachsen Vektoren, aus deren Summe das Geschehen hervorgeht. Das so entstandene
Klangbild entspricht den Intentionen der Musizierenden. Liegen keine
schriftlich fixierten Vorgaben für den Klangablauf vor, wird das
Klangbild aufgrund spontaner Intentionen als Improvisation Gestalt.
Wie gross der Markt bezüglich musikalischer Improvisation ist,
sei dahingestellt. Erinnernswert bleibt jedoch die Affinität zwischen
den Ereignissen innerhalb eines Fussballspiels (Feld, Regeln) und innerhalb
einer musikalischen Improvisation. (akustische Gesetzmässigkeiten,
Beschaffenheit der menschlichen Stimme, Möglichkeiten der Instrumente).
Infolge der Fülle an unvorhergesehenen Situationen wird beiden
geschehen eine Faszination zuteil, die sich in Form einer raschen und
bereitwilligen Anteilnahme am Geschehen äussert.
Mit den zwei Positionen des improvisierenden Musizierens und des Zuhörens
kann die Musikwelt existieren, ist aber noch nicht vollständig.
Die Position des Komponierens - das Festlegen von Bedingungen, die zu
chrakteristischer Gestalt führen - ergibt die fehlende dritte Position.
Die aus dem Kompositionsvorgang entstandene Klangdisposition ist als
zusätzliche strukturierende Ebene zu verstehen. Zudem ist sie Grundlage
dafür, dass deren Strukturen reproduziert werden können.
Die Anzahl möglicher Geschehen innerhalb der primären musikalischen
Gegebenheiten wird um die hinzukommenden Strukturen einer Komposition
reduziert. Durch die determinierten Verhältnisse kommt der Position
des Zuhörens wahrnehmungsmässig eine weitere Dimension zu.
Wir eine Komposition zum ersten Mal gehört, verhält sich je
nach Konstellation der Faszinationsgrad bei den Zuhörern. Bestimmung
einer Komposition ist aber, zu ermöglichen, mit spezifischen Klangstrukturen
wiederholt in Kontakt kommen zu können. Vertrautheit kanalisiert
Unvorhergesehenes.
Weil vordergründig die Fülle an Möglichkeiten und demzufolge
an unvorhergesehenen Situationen als geringer erscheint, müssten
eigentlich Klanggeschehen in einer Komposition vom Innenleben weniger
an spontanen Reaktionen erfordern und auch weniger faszinierend wirken,
als solche in einer Improvisation. Erinnern wir uns aber an das eingangs
angeführte Bild vom Fahrrad auf verkehrsfreier Strasse sowie an
die Feststellung, dass es unzählige Möglichkeiten gibt, auf
der zur Verfügung stehenden Fahrbahn von A nach Z zu gelangen,
so werden wir der entsprechenden Perspektive gewahr, die eine Komposition
unserem spontanen Wahrnehmungsvermögen eröffnet. Der vorhandene
Spielraum in dieser Bahn stellt das Gefäss dar, worin auf jede
Aktion bei der Ausführung über die Wahrnehmung eine spontane
Reaktion im Innenleben folgt. Unsere Wahrnehmung wird gewissermassen
in einen „Mikrokosmos“ gelenkt. Darin ist spontanes Erleben
im gleichen/vollen Ausmass möglich, jedoch unterscheiden sich die
Wahrnehmungs- und Reaktionsvorgänge von denjenigen infolge einer
Improvisation.
Beim wiederholten Anhören einer Komposition resultieren die Reaktionsvorgänge
aus den jeweils neu auftretenden Verhältnismässigkeiten zwischen
einmaliger Gestalt des momentanen Verlaufs in bezug auf die bereits
vertrauten strukturellen Gegebenheiten. Die Identität der Erscheinung
bleibt in Funktion einer veränderten Konstellation bestehen. Wir
beginnen auf feine und feinste Unterschiede zu reagieren. Die Qualität
der Wahrnehmung verändert sich. Oder, eine Komposition wiederholt
zu Klang werden lassen, gibt uns Gelegenheit, über die Position
des Hörens den eigenen Wahrnehmungsraum entsprechend ausmessen
und erfahren zu können.
Voraussetzung für die Vollständigkeit dieser Erfahrung ist,
dass die Wiedergabe des Klangeschehens jedesmal live erfolgt, da Klänge
ab Tonträger ihrer wesentlichsten Komponente beschnitten sind,
der Modellierbarkeit. Ein bestimmter Klang entsteht aufgrund einer bestimmten
Konstellation. Durch die Wiedergabe über Tonträger erstarrt
das Leben aus dieser Verhältnismässigkeit.
Mit den vorangegangenen Darstellungen sollte veranschaulicht werden,
wie Geschehen über die Wahrnehmung Entsprechung finden. Die Qualität
der Wahrnehmung ist Folge der Qualität des Geschehens.
Ein Ereignis zeitigt immer eine Wirkung. Etwas, das als blosse Wirkung
wahrgenommen wird, wird von einem isolierten Ereignis stammen. Eine
Vielzahl von isolierten Ereignissen mag eine fulminante Wirkung haben.
Grundlagen für eine tragfähige „Welt“ sind dann
vorhanden, wenn die vielen Ereignisse als zueinander in Beziehung stehend
erfahren werden können. Strukturen, die aus der Verhältnismässigkeit
zwischen Komplexität von Geschehen und Wahrnehmungsvermögen
hervorgehen, sind in Funktion dieser Beziehungserfahrung. Wir man sich
solcher Fakten bewusst, beginnt man von selbst, der Beziehung zu anderen
die entsprechende Bedeutung beizumessen.
© Daniel Schweizer, Juni 1994